Die Autonomiephase ist in der kindlichen Entwicklung ein wichtiger Meilenstein, der umgangssprachlich in den vergangen Jahren auch „Trotzphase“ genannt wurde und teilweise auch immer noch so benannt wird. Sie beginnt ungefähr mit dem zweiten Lebensjahr und endet zum Ende des dritten Lebensjahres. Diese Zeitspanne kann jedoch variieren, da jedes Kind ein individuelles Tempo hat. Allerdings ist diese Phase sehr bedeutsam, weil alle Kinder in diesem Zeitfenster lernen, sich von ihren Bezugspersonen zu lösen und ein „Ich-Bewusstsein“ zu entwickeln. In dieser Zeitspanne testen sie immer mehr das eigene Können und verfolgen zudem vermehrt eigene Ziele und Interessen und erleben dabei oft, dass ihnen nicht alles sofort gelingt, was dann in der Regel zu großen Frustration führt.
Während der Autonomiephase stoßen Kinder daher sowohl psychisch als auch physisch an ihre Grenzen und erleben Misserfolge. Gleichzeitig werden sie mit Regeln und Verboten konfrontiert und erhalten Rückmeldungen auf ihr Verhalten. Diese Erlebnisse führen zu Frustration und Wut, da Kinder in diesem Alter noch keine Strategien zur Selbstregulation oder zur angemessenen Anpassung ihrer Emotionen entwickelt haben. Die typischen Reaktionen sind Schreien, Trampeln, Tritte, Schlagen und sich auf den Boden werfen. Erschweren kommt hinzu, dass diese Phase essenziell für die Entwicklung des Selbstbewusstseins und der individuellen Persönlichkeit des Kindes ist. So lernen sie pö a pö , mit Frustration und negativen Gefühlen umzugehen.
Die Auseinandersetzung mit den eigene Gefühlen und Frustrationen ist daher in der Autonomiephase ein wichtiger Entwicklungsschritt, da alle Kinder den Wunsch haben, die Welt zu entdecken und selbstständig zu werden. Motorische Fähigkeiten wie Laufen sind notwendig, damit Kinder ihre Umwelt erkunden können. Auch die kognitive und sprachliche Entwicklung spielt eine wichtige Rolle. Im zweiten Lebensjahr erweitern Kinder zwar täglich ihren Wortschatz, was ihnen hilft, Wünsche und Bedürfnisse besser auszudrücken. Missverständnisse sind jedoch vorprogrammiert, da die Kommunikationsfähigkeiten noch nicht ausgereift sind und viele Wörter noch im Wortschatz fehlen, was zu weiteren Frustrationen führt. Auch müssen sie (gerade auch in der Krippe) lernen, ihre Bedürfnisse zurückzustellen, da sie mit vielen anderen Kleinstkindern um die Aufmerksamkeit der Erwachsenen konkurrieren, was erneut zu Frustrationen führt.
„Trotzen“ ist kein Fehlverhalten
Die Autonomiephase wurde in der Vergangenheit oft als „Machtspiel“ zwischen Kind und Erwachsenem missverstanden. Diese Annahme ist jedoch falsch, da Kinder im Kleinkindalter noch nicht in der Lage sind, bewusst gegen Erwachsene „anzukämpfen“. Ein Wutanfall, z.B. wegen einer verweigerten Süßigkeit, richtet sich nicht gegen den Erwachsenen, sondern zeigt die Unfähigkeit des kleinen Kindes, seine Enttäuschung und Wut mit angemessenen Worten auszudrücken. Und weil dem so ist, brauchen Kinder in dieser Situation Fürsorge, Liebe und Zuneigung, anstatt negativer Rückmeldungen wie Tadel, Schimpfen oder Strafe. Die Reaktion der Bezugsperson in solch einer Situationen beeinflusst zudem das Bindungsverhalten des Kindes und dessen Selbst- und Weltwahrnehmung, daher sind diese Situationen so prägend. Um das Verhalten von Kindern in der Autonomiephase besser zu verstehen, ist es daher wichtig, auch etwas über die Funktionsweise des kindlichen Gehirns zu wissen, nach dem Motto: So „tickt“ ein Kleinkind.
Das Großhirn – der Neocortex
Der Neocortex, die oberste und jüngste Ebene des Gehirns, ist für rationales, logisches und lösungsorientiertes Denken zuständig. Hier lernen, planen und speichern wir Ereignisse chronologisch. Er kontrolliert bewusst ausgeführte Bewegungen und überwacht die Selbstregulierung.
Das limbische System
Das limbische System, im mittleren Teil des Gehirns, ist für Emotionen, Gefühle sowie Kindheits- und Verhaltensmuster verantwortlich. Es umfasst den Thalamus, der alle Sinneseindrücke wie Sehen, Riechen und Fühlen wahrnimmt und diese in die „Sprache“ des Gehirns übersetzt.
Die Amygdala, auch Mandelkern genannt, ist für die emotionale Bedeutung von Informationen zuständig, wie z.B. Angst, Stress und Druck. Während hier diesen Informationen eine Bedeutung gegeben wird, prüft und bewertet der Hippocampus im Kontext zur Umwelt, ob die wahrgenommenen Reize, also das, was Gesehen, Gehört oder Gerochen wird, förderlich oder gefährlich für die Person sind.
Der Mandelkern speichert somit alle erlebten emotionalen Erfahrungen, während der Hippocampus die dazu passenden Fakten aufbewahrt, da er für das „emotionale“ Gedächtnis zuständig ist. Dieses System steuert unser gesamtes Gefühlsleben und befindet sich zwischen der Großhirnrinde und dem Hirnstamm, der ältesten Gehirnregion, die überlebenswichtige Funktionen wie Atmung und Herzschlag steuert.
So werden alle Sinneseindrücke sowohl rational (Verstandesebene) als auch emotional bewertet, bevor wir handeln. Das ist bei einem Kleinkind genauso. Aber…
Wichtig zu wissen:
Hirnforscher haben schon vor etlichen Jahren eine sehr bedeutsame Erkenntnis gewonnen: Emotional heftige Ereignisse wie Angst, Furcht, Druck, Herabwürdigung, Strafe oder Bedrohung gelangen auf „schnelleren“ Bahnen vom Thalamus (der alles wahrnimmt und übersetzt) zum Mandelkern (der unsere Erfahrungen gespeichert hat) und zum Hippocampus (der bewertet und prüft, ob es förderlich oder gefährlich ist). Der Mandelkern erteilt dann Blitz-Befehle, die direkt zum präfrontalen Kortex geschickt werden, welcher für das Handeln zuständig ist, und löst so Spontanreaktionen, also Handeln ohne Nachdenken, aus. Normalerweise ist der langsame präfrontale Kortex zuständig, da er die Informationen vom Mandelkern erst prüft, mit gespeicherten emotionalen Erfahrungen vergleicht und dann die Konsequenzen abwägt. Erst danach gibt er einen Befehl zum Handeln. In emotional heftigen Situationen hingegen, wie beispielsweise bei einem verbalen Angriff oder wenn wir bedroht werden oder massive Angst haben, kommt der präfrontale Kortex jedoch zu spät, da der Mandelkern schon den Befehl gegeben hat. In Schrecksituationen oder bei Gefahr ist dieses Verhalten auch gut und sinnvoll, weil wir dann nur reagieren. Im Alltag hingegen brauchen wir überlegtes Handeln.
Weil dem so ist brauchen Kinder, genauso wie Erwachsene, eine Fülle von abgespeicherten Emotionen und das passende (Erfahrungs-)Wissen über verschiedene und unterschiedliche Verhaltensweisen, um richtig reagieren zu können. Dies ist bei Kleinkindern jedoch noch nicht möglich, da ihnen die vielfältigen Erfahrungen noch fehlen, die sie erst im Laufe der Zeit aus vielen konkreten Situationen lernen müssen.
Die Gefühlswahrnehmung bei Babys und Kleinkindern
Das Gehirn eines Babys entwickelt sich schrittweise durch Interaktionen mit der Umwelt. Anfangs reagieren Babys reflexhaft auf Reize, da ihre oberen Gehirnstrukturen noch nicht vollständig vernetzt sind. Daher können auch Zweijährige ihre Gefühle noch nicht bewusst regulieren. Der Neocortex, der für rationales Denken zuständig ist, ist zwar vorhanden, aber noch nicht gut vernetzt. Die Kleinkinder reagieren daher sehr oft impulsiv und reflexhaft, was in Stresssituationen wie der Nicht-Befriedigung von Bedürfnissen besonders deutlich wird.
Das Verhalten von Kleinkindern ist in der Autonomiephase stark emotional und impulsiv. Sie werden wütend, traurig, schreien, toben oder werfen sich auf den Boden wenn sie Stress erleben, wie etwa das Misslingen einer selbstständigen Handlung oder die Nichterfüllung eines Bedürfnisses, wie spontan auf den Arm genommen werden. Pädagogische Fachkräfte sind daher gefordert diese wichtige Phase der Kinder achtsam und feinfühlig zu begleiten, um ihnen zu helfen, die eigenen Gefühle zu regulieren. Mit der Zeit wird der Neocortex diese Funktion immer mehr übernehmen, aber bis dahin sind Kleinkinder auf die Unterstützung ihrer Bezugspersonen angewiesen.
Verwendete Literatur:
- Mierau, Susanne (5. Auflage, 2020) „Ich will aber nicht“ – die Trotzphase verstehen und gelassen meistern.
- Spitzer Manfred,(2007) Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Spektrum Verlag