Kinderrechte versus Partizipation

Partizipation in Kindertagesstätten ist als Thema in der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung nicht mehr wegzudenken. Hierbei stützt man sich nicht nur auf das Recht der Kinder zur Mitbestimmung, wie es in der UN-Kinderrechtskonvention und im SGB VIII festgehalten ist, sondern auch auf die Bewegungen der Inklusion und eine Pädagogik der Vielfalt. Demokratiebildung in der Kita spielt für die Zukunft der Kinder eine wichtige Rolle. Partizipation und Beteiligung werden hierbei als Schlüssel zu Bildungschancen und Teilhabe verstanden.

Partizipation ist ein Kinderrecht

Doch was sagen eigentlich die Gesetze im Detail hierzu? Partizipation von Kindern in der Kita ist die Umsetzung von Grund- und Kinderrechten: Die UN-Kinderrechtskonvention, die 1989 verabschiedet wurde, legt fest, dass Kinder ein Recht darauf haben, dass ihre Meinung und ihr Wille gehört und berücksichtigt werden (Artikel 12 UN-KRK). Auch das deutsche Recht gewährleistet diesen Anspruch, indem es den Kindern im SGB VIII (Artikel 8) das Recht auf Beteiligung und Beschwerdeführung einräumt.

Es gibt vier Leitprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention:

1

Das Recht auf Gleichbehandlung und Schutz vor Diskriminierung aller Kinder

(Artikel 2).

2

Vorrangigkeit des Kindeswohls:

Das Recht, bei allen Kindern betreffende Maßnahmen – das Wohl des Kindes in den Vordergrund zu stellen (Artikel 3).

3

Sicherung von Entwicklungschancen:

Das Recht auf bestmögliche Entwicklungschancen (Artikel 5 und 6).

4

Berücksichtigung des Kindeswillens:

Das Recht auf freie Meinungsäußerung und Berücksichtigung des Kindeswillens (Artikel 12)

1. Selbstbestimmung:

„Ich bestimme über mich“.

 

Es ist ein Grundrecht, dass wir unsere Persönlichkeit frei entfalten dürfen, wie im Grundgesetz in Artikel 2 festgelegt – sofern wir nicht die Rechte anderer verletzen. Kinder sind von Anfang an dabei, ihre Persönlichkeit zu entdecken und zu entwickeln, und benötigen dabei den Schutz und die Unterstützung ihrer erwachsenen Begleiter*innen. Es ist wichtig, dass sie erleben und erfahren: „Ich bin ich. Ich bin richtig so wie ich bin und wichtig, also auch mit all dem was mich an und umtreibt, meinen Bedürfnissen, Unzulänglichkeiten, meiner Unvollkommenheit und vor allem auch meiner Meinung oder meinem Nein.“ Das bedeutet jedoch nicht, dass all ihre Bedürfnisse und Meinungen immer sofort und Eins-zu-Eins durchgesetzt werden können, denn es gibt auch andere Menschen mit ihren Bedürfnissen und Meinungen. Trotzdem verdient jedes Kind Respekt und sollte als Persönlichkeit mit einzigartigen Charaktereigenschaften, Talenten, Potentialen und auch Meinungen ernst genommen werden. Sie sollten gehört werden; erleben ich darf mich äußern, werde unterstützt mich selbst wahrzunehmen und auszudrücken. Selbstbestimmungsrechte bieten einen Rahmen für die Entwicklung von Selbstorganisation und sind ein wesentlicher Teil der Selbstbildung.

Die Unterstützung von Kindern dabei, ihre Individualrechte zu verinnerlichen, trägt auch zur Gewaltprävention bei. Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper („Kein Küsschen auf Kommando“) ist hierbei ein grundlegendes Prinzip.

2. Mitbestimmung:

„Ich bestimme mit.“ –  Die Kollektivrechte.

Was dürfen die Kinder in der Kita mitentscheiden oder gar selbst entscheiden? Welche Rituale gibt es für die Beteiligung von Kindern an Entscheidungen? Werden sie über anstehende Dinge kindgerecht und passgenau informiert? Und wenn ja, wie? Wissen sie, das sie eine Meinung haben dürfen und auch gehört werden, wenn sie sich über etwas oder jemanden beschweren möchten? Während die Selbstbestimmungsrechte auf das Individuum zielen, beziehen sich die Mitbestimmungsrechte auf eine Gruppe; es sind Kollektivrechte und eine erste Einübung in Demokratie.

Die Beteiligung der Kinder an Gruppen- oder auch Kita-Entscheidungen kann dabei mehr oder weniger intensiv sein. Die Beteiligung wird in vier Stufen unterschieden:

  1. Stufe 1: Ich werde (kindgerecht) informiert.
  2. Stufe 2: Ich werde gehört.
  3. Stufe 3: Ich darf mitentscheiden.
  4. Stufe 4: Ich darf allein entscheiden.

Auch hier gilt: Die Basis ist eine Verständigung im Team darüber, wie die Fachkräfte die Mitbestimmungsrechte der Kinder an den verschiedenen Punkten sehen und wo sie ihre „Macht“ bewusst an die Kinder abgeben, ohne zugleich die Führung aus der Hand zu geben. Welchen Rahmen wollen Sie setzen? Worüber werden die Kinder informiert, wozu werden sie lediglich gehört, wo dürfen sie mitentscheiden, und was dürfen sie selbst entscheiden? Und wie geht das vor sich?

„In allen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern sind ausschließlich die Erwachsenen für die Qualität des wechselseitigen Umgangs miteinander verantwortlich.“
Jesper Juul, 2018, Grenzen, Nähe, Respekt (S. 17)

Die Frage, welchen Raum den Kindern für ihre Selbst- und Mitbestimmung eingeräumt wird, berührt tief die Überzeugungen und auch die Toleranz jeder einzelnen Fachkraft. Mit Blick auf die Selbstbestimmungsrechte der Kinder könnte daher folgender Grundsatz wegweisend sein: Selbstbestimmung endet, wo die Fürsorgepflicht beginnt oder wichtiger ist. Kinder haben bei allem Respekt vor ihrem Willen noch nicht immer die Erfahrung und Kompetenz, die Konsequenzen ihres Tuns zu überblicken. Dennoch sollten pädagogische Fachkräfte immer wieder aufs Neue die Rechte der Kinder besprechen, um sich selbst, ihre Haltung und damit verbunden auch die tägliche Arbeit zu reflektieren, und um auch den Eltern Haltungen und Entscheidungen zu erklären.

Partizipation ist Teamsache

Die Umsetzung von Kinderrechten kann niemals „top-down“ funktionieren, beispielsweise angeordnet durch die Leitung oder den Träger. Vielmehr muss gemeinsam im Team festgelegt werden, wie der Rechte-Rahmen der Kinder in der eigenen Kita realisiert werden soll. Können zum Beispiel wirklich alle Fachkräfte einer Regel wie „Die Kinder entscheiden selbst, was sie – auch draußen – anziehen“ folgen? Oder der Regel „Die Kinder dürfen selbst entscheiden, ob sie drinnen oder draußen spielen?“ Einige pädagogische Fachkräfte haben vielleicht Bedenken oder Sorge, ob es gesund ist, wenn Kinder im Winter mit ihren Lieblingssandalen im Außengelände spielen wollen. Andere muten diese Erfahrung den Kindern gern zu, da die Kinder so aus dem eigenen Erleben lernen und Konsequenzen ziehen können. Und wieder andere Fachkräfte könnten der Meinung sein, dass es wichtig ist darauf zu vertrauen, dass im Kind selbst ausreichende Impulse vorhanden sind, um eine Situation zu suchen, die ihnen guttut.

Es ist das Team, also alle Erwachsenen, die den Rahmen schaffen, Verbindlichkeit, Transparenz und Verlässlichkeit sichern und die Rechte der Kinder umsetzen. Daher bedarf es der regelmäßigen Reflexion im Team: Wie sehen Fachkraft A und Fachkraft B die Sache? Was ist der (kleinste) gemeinsame Nenner, der Rahmen, der von allen getragen werden kann? 

Partizipation ist eine Haltung

Gelebte Partizipation erfordert eine Haltung, die den Kindern Respekt entgegenbringt, sie ernstnimmt und ihnen vertraut. Welches Bild vom Kind liegt unserem Handeln zugrunde? Sind wir davon überzeugt, dass Kinder eigenständige Persönlichkeiten sind, deren wesentliche Entwicklungsmotoren die eigene Neugier und eigene Erfahrungen sind? Glauben wir, dass sie „Selbstbildner“ sind, die ein Recht auf Selbstbestimmung haben und brauchen, um ihren inneren Kompass zu finden und ihren eigenen Entwicklungsimpulsen zu folgen? Wie sehen wir unsere Rolle als Erwachsene, die die Kinder auf ihrem Weg begleiten? Wie sprechen wir mit ihnen? Wie genau nehmen wir wahr, was sie gerade bewegt? Geben wir ihnen Raum zum Erfahren und Entwickeln, zum Mitteilen und Ausdrücken?

Partizipation gedeiht am besten dort, wo eine offene und respektvolle Haltung den Umgang miteinander prägt – sowohl den Umgang der Erwachsenen miteinander als auch die Kommunikations- und Entscheidungskultur im Team und zwischen Team und Eltern. Denn es ist auch wichtig, die Eltern mit „im Boot“ zu haben, damit nicht am Ende das Kind mitten in einem Kompetenzgerangel zwischen Fachkräften und Eltern steckt.

Partizipation und Machtverteilung

Partizipation stellt die Frage nach der Verteilung von Entscheidungsbefugnissen und damit nach der Machtverteilung zwischen Erwachsenen und Kindern. Wer hat das Recht, an welchen Entscheidungen mitzuwirken? Wer erteilt dieses Recht, versagt es oder zieht es zurück?

Partizipation bedeutet nicht einfach freundliches Zuhören und das Aufnehmen von Kinderwünschen; Partizipation ist das Recht der Kinder, sich an realen Entscheidungen zu beteiligen. Die Beteiligung der Kinder setzt eine freiwillige Machtabgabe der Erwachsenen und eine Bemächtigung der Kinder voraus. Partizipation beginnt bei Entscheidungen, die sich auf die Selbstbestimmung des einzelnen Kindes beziehen (vgl. Hansen 2009).

Grenzen überwinden, Partizipation wagen

„Die erste Grenze, die es zu überwinden gilt, damit Partizipation von Kindern gelingt, liegt im Kopf der Erwachsenen, die Kindern eine kompetente Beteiligung vielleicht nicht zutrauen oder keine Ideen haben, wie sie Beteiligungsprozesse initiieren und gestalten können. Kinder können sich beteiligen, wenn die Erwachsenen es zulassen und sie angemessen begleiten. Das bedeutet auch, dass die zugemuteten Aufgaben zwar durchaus anstrengend sein und Misserfolge beinhalten können, aber potenziell von den Kindern zu bewältigen sein müssen.“
(Rüdiger Hansen in: KiTa aktuell ND, Ausgabe 03.2013, S. 67-69)

Quellenverzeichnis

  • Rüdiger Hansen in: KiTa aktuell ND, Ausgabe 03.2013, S. 67-69
  • Rüdiger Hansen; Raingard Knauer; Benedikt Sturzenhecker: Die Kinderstube der Demokratie. Partizipation von Kindern in Kindertageseinrichtungen, in: TPS – Theorie und Praxis der Sozialpädagogik, Ausgabe Nr. 2/2009, S. 46-50.
  • Rüdiger Hansen; Raingard Knauer; (2015). Das Praxisbuch: Mitentscheiden und Mithandeln in der Kita. Wie pädagogische Fachkräfte Partizipation und Engagement von Kindern fördern. Verlag Bertelsmann Stiftung

Ursula Günster Schöning ist Prozessbegleiterin und systemische Organisationsentwicklerin, Senior-Coachin QRC und pädagogische Koordinatorin. Als Sozialfachwirtin, Erzieherin und Führungskraft war sie in der Elementarpädagogik tätig. 2006 gründete sie das Fortbildungsinstitut ERFOR und begleitet seitdem Teams bei Veränderungsprozessen. Zudem arbeitet sie als Weiterbildnerin, Speakerin, Moderatorin und Autorin.

Webseite: www.ursula-schoening.de | Mail: info@ursula-schoening.de

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